Hallucigenia | Simon Conway Morris | |||||||
Begriffe: | Die erste Skizze von Hallucigenia fertigte ich in der Smithsonian Institution, Washington |
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Hallucigenia | |||||||
Bekanntermaßen hatte meine ursprüngliche Rekonstruktion einen erheblichen
Fehler: das Tier stand auf dem Kopf. Wenn die Wissenschaft eine Verfeinerung wahrnehmbarer Fakten im realen Universum ist, dann muss ihr Weg mit Teilwahrheiten gepflastert sein – im Graben zu beiden Seiten liegen Irrtümer wie rostende Wracks. Die Umkehrung eines Fossils appelliert an unseren Sinn für Absurdes, für das Aufden- Kopf-Gestellte. Aber selbst als Rekonstruktion sieht Hallucigenia noch äußerst seltsam aus. Worin jedoch liegt genau ihre Fremdheit begründet? Nicht in den Nebeln des Kambriums, glaube ich, wo sie einen Schlamm bewohnte, der sich längst in Stein verwandelt hat. Es ist eine seltsame Ironie, dass uns trotz boomender Naturfilme, Safaris und Unterwasserexpeditionen die Fremdheit des Lebens rundherum zu entgehen scheint. In den Wäldern, im Boden und in den Ozeanen gibt es Tiere, die genau so seltsam sind wie Hallucigenia. Diese Wunder aber bleiben unbemerkt. Mehr noch: Unser Gefühl für das Fließende und die Anmut von Lebewesen scheint mehr und mehr verloren zu gehen. Die Fossilien sind ein dringender Hinweis dafür, dass der Reichtum der paläontologischen Vergangenheit vom heutigen Reichtum bei weitem übertroffen wird. Wir spotten über Eden, aber bis vor ein paar Jahren sah unser Planet genau so aus, sowohl mit den natürlichen Ozeanen, in denen es vor Leben nur so wimmelte, als auch durch den von Menschenhand gestalteten Garten Europas, das ländliche England. Seit damals hat unsere Gesellschaft überraschender-weise jeglichen Sinn für das dem Leben innewohnende Transzendente verloren. Wir mögen von Einhörnern träumen oder auf einer Zeitreise in die Vergangenheit Hallucigenia sehen, wie sie einst war, statt uns ein fantastisches Bild von ihr zu machen. Wir sollten uns aber fragen, ob solche Träume und Reisen tatsächlich nur ein letztes Lebenszeichen der Entwurzelten sind, oder nicht vielleicht doch, wie ich glaube, einem immer stärker werdenden Herzenswunsch entströmen. |
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AutorInnen: | (Aus: Simon Conway Morris / Maia Damianovic, in: documenta X Edition, Martin Walde – Hallucigenia, Edition Schellmann, documenta X (Hrsg.), München / Wien, 1997) |
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Simon Conway Morris |